IMI-Analyse 2023/42 in: Ausdruck September 2023

Ein Wall quer durchs Land

In der besetzten Westsahara liegen völkerrechtliche und De-facto-Grenzen Meilen auseinander.

von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 20. September 2023

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Besetzte Gebiete in der Ukraine, in Syrien, in Israel/Palästina und auch die besetzte Westsahara rufen uns gerne in Erinnerung, dass nicht überall, wo völkerrechtlich Grenzen verlaufen, diese respektiert werden – und dafür hochmilitarisierte Grenzbefestigungen quer durch völkerrechtlich eindeutig zusammengehörende Gebiete verlaufen. Die Konflikte, die zu solchen Situationen führen oder daraus entstehen, lehren, dass völkerrechtliche Grenzen nicht immer mit kulturellen Grenzen übereinstimmen und auch letztere durch Migrations- und Assimilierungsprogramme verändert werden können. Besatzer und Befreiungsbewegungen müssen Menschen im In- und Ausland von der Legitimität ihres vorgestellten Grenzverlaufs überzeugen. Doch letztendlich gilt immer noch das Primat der Stärke – und das im Osten wie Westen. Ein Beispiel der westlichen Unterstützung für die illegale Grenzverschiebung ist die Westsahara.

Schwerwiegendes Selbstbestimmungsrecht

Obwohl die Westsahara noch nie einen eigenen Staat nach modernen Kriterien konstituierte, sind ihre völkerrechtliche Einheit und das Selbstbestimmungsrecht seiner Bevölkerung eigentlich unumstritten. Das ursprünglich von arabischen Nomaden bevölkerte Wüstenland am Atlantik steht seit 1963 auf der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung der Vereinten Nationen (UN), deren Generalversammlung die spanische Kolonialmacht daraufhin mehrfach aufforderte, das Territorium seinen Bewohner*innen zu überlassen. Zehn Jahre später gründete sich die Frente POLISARIO1 und begann den bewaffneten Kampf gegen die Kolonisatoren. Nach einem Paradigmenwechsel durch den Tod des spanischen Diktators Francisco Franco zog die Kolonialmacht 1976 ab. Jedoch nicht ohne zuvor mit Marokko und Mauretanien ein Abkommen zu schließen, welches das Land zwischen den beiden Nachbarländern aufteilte.

Dies geschah, obwohl der Internationale Gerichtshof einen Monat zuvor eindeutig geurteilt hatte, dass das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung über die historischen Verbindungen der beiden Provinzen zu den Nachbarländern überwiege und ein Referendum durchzuführen sei.

Da dieses Urteil offensichtlich nicht das gewünschte war, wurde es dann auch ignoriert. Mit der wahrscheinlich gekauften, aber bis heute medial ausgeschlachteten Zustimmung der traditionellen Stammesfürsten hatten die zukünftigen Besatzer auch schon eine medienwirksame Ausrede. Noch bevor die Spanier das Feld räumten, zogen während des sogenannten grünen Marschs rund 350.000 Marokkaner*innen auf Empfehlung ihrer königlichen Verwaltung ohne Waffen, aber mit Fahnen, Koranen und marokkanischem Militärschutz in die nördliche Westsahara ein. Nach dem Abzug des spanischen Militärs rückten das mauretanische Militär vom Süden und das marokkanische vom Norden in das Land ein. Trotz breiter Unterstützung aus dem Volk, auch beispielsweise von Parteien, die ursprünglich von der Kolonialmacht als Gegengewicht zur Frente POLISARIO gegründet worden waren, sowie von großen Teilen der einheimischen Polizei und Militärbataillone, hatte die aus der nur knapp 80.000 Menschen umfassenden Bevölkerung rekrutierte Guerilla keine Chance gegen die 25.000 Soldaten, die Marokko schickte. Sie konzentrierten sich darauf, die Konvois flüchtender Sahrauis in Richtung Algerien zu schützen und dem viel schwächeren mauretanischen Militär, aber auch der von den Marokkanern zuerst gesicherten französischen Phosphatabbau-Infrastruktur kleine Schäden zuzufügen.

Mauern aus Sand, Technologie aus dem Westen

Die Befreiungsfront hatte es von Anfang an mit übermächtigen Gegnern zu tun, die zudem von den führenden Militärmächten USA und Frankreich nicht nur moderne Waffen bekamen, sondern oft sogar direkt mit Luftunterstützung und teilweise auch Spezialkräften am Boden unterstützt wurden. Trotzdem gelang es der Guerilla, zumindest Mauretanien so mit Nadelstichen zu malträtieren, dass sich die Regierung zu Friedensverhandlungen und 1979 zu einer Rückgabe der besetzten Gebiete überreden ließ. Die marokkanischen Truppen, die das mauretanische Militär auch auf deren Besatzungsgebiet sowie in deren Heimatland unterstützten, fühlten sich jedoch nicht an diesen Vertrag gebunden und besetzten die Gebiete nach Mauretaniens Abzug. Vom Regen in die Traufe gefallen, blieb den Guerilla noch immer kaum Land und sie wurden von Marokko zunehmend in die Wüste gedrängt.

Bald begann Marokko Grenzbefestigungen um alle neuen Gebietsgewinne zu errichten, die die kleinen, hochmobilen Kampftruppen der Guerilla nicht überwinden oder durchbrechen können. (Karte im PDF-Dokument, das oben mit Klick auf das Bild heruntergeladen werden kann) Größere Kampfverbände wären wiederum ein leichtes Ziel für die marokkanische Artillerie und Luftwaffe. Den ersten solchen Wall schuf Marokko, als es das sogenannte „Nützliche Dreieck“ mit drei der vier größten Städte des Gebiets und den wohl größten Phosphatreserven der Welt erobert hatte. Danach errichtete es im Laufe der 1980er Jahre nach allen nennenswerten Gebietsgewinnen weitere dieser bewährten Wälle, insgesamt sieben an der Zahl.2 Mit über 3.000km ist diese Grenzbefestigung heute die größte dieser Art. Die davor liegenden Minengebiete können diese Superlative ebenfalls für sich beanspruchen. Zudem ist der Wall mit Stacheldraht, Radarsystemen und anderer moderner Grenztechnologie bestückt, die hauptsächlich aus den USA, Frankreich und Israel stammt. Grenzübergange, wo Sahrauis zwischen befreiter und besetzter Zone pendeln könnten, gibt es übrigens nicht.

Nachdem es fast die ganze Westsahara erobert und mit Wällen gesichert hatte, ließ sich Marokko 1991 endlich von den Vereinten Nationen zu Waffenstillstandsverhandlungen überreden – auch da das Hauptquartier der POLISARIO im algerischen Tindouf liegt, wo seit Beginn des Kriegs auch der größte Teil der sahrauischen Bevölkerung in Flüchtlingscamps lebt. Eine abschließende Vernichtung der Guerilla wäre somit nicht möglich, ohne einen Krieg mit dem hochgerüsteten Nachbarland zu riskieren. Den Sahrauis blieb damit ein rund 20% des Landes umfassender Streifen im Osten, der nahezu komplett aus Wüste besteht und ein wenige Kilometer schmaler Streifen zwischen Mauretanien und der marokkanisch kontrollierten Zone bis vor an den Atlantik.

Wer ist „das Volk“ eines Landes?

Knapp 30 Jahre war der Konflikt nun eingefroren, da Marokko sich weigert, das von der UN geforderte Referendum in der ursprünglich angedachten Form durchzuführen bzw. keine Einigkeit zwischen Marokko und der POLISARIO über die Formalitäten besteht. Der Knackpunkt hierbei ist, das Marokko verlangt, dass auch Stämme, die vor der Besatzung in Südmarokko lebten, ein Wahlrecht haben. Die Forderung der POLISARIO war immer, dass nur Personen, die vor der Besatzung in der Westsahara lebten oder von solchen abstammen, stimmberechtigt sind, wie es auch die ursprüngliche Resolution der UN vorsah.

Von den heute im von Marokko besetzten Teil der Westsahara lebenden 630.000 Menschen machen diese Sahrauis jedoch nur noch knapp 20% aus. Sie sind dort weniger als die Angehörigen der marokkanischen Streitkräfte selbst, die mit rund 180.000 Personen vor Ort sind.3 Fast doppelt so viele, also knapp 200.000 Sahrauis, leben in den Flüchtlingscamps in Algerien. Eine kurze Phase der Ansiedlung sahrauischer Menschen aus den Camps in den von der POLISARIO kontrollierten sogenannten „befreiten Gebieten“ endete abrupt, als das Waffenstillstandsabkommen im November 2020 scheiterte. Sahrauische Protestierende hatten in dem schmalen „befreiten“ Streifen zwischen dem von Marokko besetzten Gebiet und Mauretanien eine Straße blockiert. Das marokkanische Militär räumte diese, womit es laut der POLISARIO das Waffenstillstandsabkommen brach. Man befindet sich wieder im Krieg – so sehen das zumindest die Sahrauis. Marokko bestreitet es.

Grenzziehung bleibt das Recht des Stärkeren

Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den kargen Camps in Algerien scheinen schon länger lieber wieder zu den Waffen greifen zu wollen.4 Die langjährige Strategie der POLISARIO, durch Bildung, Austauschprogramme und Personalplatzierung in internationalen Organisationen ihren Kampf bekannt zu machen und internationale Unterstützung aufzubauen, war nur bedingt erfolgreich. Viele der gut ausgebildeten jungen Generation arbeiten, wenn sie nicht nach Europa oder in die algerischen Städte ziehen, im informellen Sektor als Taxifahrer o.ä., was die Jugendlichen weder im nationalen noch im Eigeninteresse überzeugt. Der Glaube an Bildung, Diplomatie und die Vermittlung der UN ist aufgebraucht.

Andererseits konnte Marokko jüngst einige wichtige internationale Unterstützer für den Fortbestand seiner Okkupation sammeln. Den größten Fisch angelte es dabei gleich zu Beginn, als es auf Betreiben Donald Trumps den Abraham Accords beitrat und diplomatische Beziehungen mit Israel aufbaute und dafür die Anerkennung ihrer Hoheit über die Westsahara durch die USA sowie die Freigabe von US-Kampfjet-Exporten bekam. Kurz darauf konnte das Königreich durch energische Beihilfe zur blutigen europäischen Migrationsbekämpfung dem spanischen Ministerpräsidenten, Pedro Sanchez, und im letzten Jahr auch der frisch angetretenen deutschen Außenministerin, Annalena Baerbock, Lob und Rückendeckung für den schon seit 2007 bestehenden Autonomieplan abringen. Beide Länder waren zuvor lange Unterstützer der völkerrechtlich festgeschriebenen Lösung durch ein Referendum.

Freibrief für Grenzschutz

Das Einknicken der Europäer hat seine Ursachen. Für Spanien kam der Wendepunkt, nachdem es den Präsidenten der POLISARIO, Brahim Ghali, für die Behandlung einer schweren Covid-Infektion einfliegen lies und Marokko daraufhin den Grenzschutz nach Ceuta und Melilla einstellte. Innerhalb weniger Tage erreichten rund 12.000 Migranten die spanischen Exklaven.

Wie auch in der Türkei, deren Feldzüge und Besatzungen in Syrien nicht sehr viel Empörung in Europa zu wecken scheinen, ist die EU in Marokko an regelrechte Herrscher gebunden, deren Völkerrechtsbrüche sie ignorieren, entschuldigen oder gar unterstützen muss – zusätzlich zu den Millionen, die in deren Sicherheitsapparate gepumpt werden. Für Marokko sind zwischen 2021 und 2027 500 Mio. Euro im EU-Haushalt für Grenzschutzfinanzierung angelegt. Die Hoheit über die Westsahara wird somit auch zum Unterpfand für Europas eigene Verhärtung der Grenzen.5

Entgegen dem marokkanischen Narrativ, das den Konflikt als Stellvertreterkrieg mit Algerien darstellt, liefert Algerien den Sahrauis keine Waffen. Die letzten bestätigten Lieferungen stammen aus den 1990er Jahren vom damaligen sozialistischen libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi und besuchende Journalisten bekräftigen diesen Eindruck anhand des von ihnen beobachteten Militärgeräts.6 Marokko verfügt dagegen über modernste Technologie wie High-End-Drohnen aus der Türkei und Israel – welches die marokkanische Hoheit über die Westsahara seit Juli 2023 nun auch offiziell anerkennt. Mit zunehmender militärischer Unterlegenheit und abnehmender internationaler Unterstützung rückt die Hoffnung der sahrauischen Unabhängigkeitsbewegung auf völkerrechtlich versprochene Grenzen und Selbstbestimmung in immer phantastischere Ferne.

1 POLISARIO ist das spanische Akronym für „Volksfront zur Befreiung von Saguía el Hamra und Río de Oro“, in Bezug auf die Namen der beiden spanischen Provinzen, die das heutige Territorium bedeckten.

2 Das letzte, 2020 gebaute Stück ist auf der Wikipedia-Grafik nicht zu sehen und geht vom 6. Wall bis in mauretanisches Gebiet.

3 Schaap, Fritz: Sie wollen ihre Heimat zurück – oder alle auf demselben Friedhof liegen, spiegel.de, 28.01.2022. auch in: Azkue, Irantzu Mendia Dr.: Der vergessene Konflikt in Westsahara und seine Flüchtlinge, bpb.de, 29.03.2021.

4 Schaefer, York: In der Westsahara stehen die Zeichen wieder auf Gewalt, nzz.ch, 20.11.2020.

5 Monn, Julia: Über die iberische Route gelangen weniger Migranten nach Europa – woran liegt das?, nzz.ch, 17.06.2023.

6 Hilton, Daniel: Ghost towns, rockets and drones: Polisario’s war in Western Sahara, middleeasteye.net, 09.12.2021.